Lexikon der feministischen Irrtümer

Politisch korrekte Vorurteile und männerfeindliche Mythen auf dem Prüfstand der Wissenschaft

von Arne Hoffmann

Wenn jemand bei der Debatte über Gewalt gegen Frauen auch von männlichen Opfern zu sprechen beginnt, ist das „Whataboutism“

In den sozialen Medien erlebt man häufig den folgenden Abwehrmechanismus: Wenn Feministinnen häusliche und sexuelle Gewalt als Gewalt gegen Frauen darstellen und jemand einwendet, dass auch Männer häufig Opfer häuslicher und sexueller Gewalt werden, wird ihm oft zügig „Derailing“ und „Whataboutism“ vorgeworfen, also dass er auf ein Problem ablenken würde, das hier gerade nicht Thema sei: „Es geht hier gerade einmal nicht um Männer.“ (So als ob Geschlechterpolitik sonst überwiegend die Anliegen von Männern im Auge hätte.) Ausgeblendet wird dabei oft, dass derjenige, der diesen Vorwurf macht, tatsächlich entweder bei einem blinden Fleck erwischt wurde oder gezielt einen Aspekt tabuisieren möchte, der seine Argumentation scheinbar ruiniert.

In jedem Fall geht der Vorwurf daneben: Denn auch jemandem, dessen Hauptinteresse es ist, Frauen vor häuslicher oder sexueller Gewalt zu schützen, müssen männliche Opfer aus mehreren Gründen interessieren. Der Schutz auch von männlichen Opfern dient dem Schutz von Frauen.

Beispielsweise hatte ich schon in meinem 2001 erschienenen Buch „Sind Frauen bessere Menschen?“ für eine Zusammenarbeit von Feministinnen und Maskulisten plädiert:

„Diese Vereinigung der Kräfte brächte beileibe nicht ’nur‘ den Männern Vorteile, sondern würde auch den berechtigten Anliegen der Frauenbewegung neuen Auftrieb geben, etwa dem Kampf gegen sexuelle oder häusliche Gewalt. Es könnten viel mehr Männer für diesen Kampf erreicht werden, wenn sie nicht mehr alle miteinander zum ‚Tätergeschlecht‘ abgestempelt werden, sondern ihnen klar gemacht wird, dass Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Männer miteinander verkettet sind.“[1]

In ähnlicher Weise argumentierte Jahre später die Therapeutin und Sozialarbeiterin Karen Duncan in ihrem Buch über weibliche Sexualverbrecher. Wenn etwa männliche Opfer von Vergewaltigungen weiterhin konsequent ignoriert würden, befindet sie, könnte das die Motivation von Männern senken, sexuelle Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.[2] Das führt Duncan mit folgenden Worten aus:

„Die sexuelle Aggression einer Gruppe von Menschen (Frauen) zu leugnen und gleichzeitig die sexuelle Aggression einer anderen Gruppe von Menschen (Männer) aufzubauschen, wird der sexuellen Aggression kein Ende bereiten. Feindselige Überzeugungen, die von beiden Geschlechtern vertreten werden, können den Antagonismus zwischen den Geschlechtern fördern und dadurch die Risikofaktoren für Männer und Frauen aufrecht erhalten, sich in feindseligem sexuellem Verhalten zu engagieren, anstatt in einvernehmlichen und gegenseitig befriedigenden sexuellen Beziehungen. Es ist auch wichtig zu bedenken, dass das Trivialisieren oder Ignorieren der männlichen Erfahrung unerwünschten sexuellen Verhaltens durch Frauen unbeabsichtigt Männern die Erlaubnis geben kann, die weibliche Erfahrung unerwünschten sexuellen Verhaltens zu trivialisieren oder zu ignorieren.“[3]

Duncan befindet es als besonders schädlich, wenn an Hochschulen sexuelle Übergriffe allein mit dem Blick auf weibliche Opfer problematisiert werden:

„Es ist vielleicht diese Doppelmoral bei sexueller Nötigung innerhalb der Kultur des College-Campus, die die Studenten verwirrt, zu den Spannungen zwischen den Geschlechtern beiträgt, sexuelle Nötigung von Frauen und männliche Viktimisierung unkontrolliert zulässt und unwissentlich eine allgemeine Sicht der Heuchelei gegenüber dem Verhindern von sexueller Gewalt auf dem College-Campus und bei Feministinnen fördert, die sich in dieser unverhüllten geschlechtsspezifischen Voreingenommenheit engagieren. Vielleicht könnten die verschiedenen Gruppen, die sich mit diesem speziellen sozialen und gesundheitlichen Problem auf dem Campus befassen, anfangen, einen vernünftigen Dialog zu führen: ohne geschlechtsspezifische Vorurteile und mit Berücksichtigung der Realität der zeitgenössischen Normen und feindseligen Überzeugungen, die zwischen den Geschlechtern existieren.“

So gelangt Duncan zu dem Urteil:

„Um sexuelle Übergriffe auf Frauen am Campus zu unterbinden, muss es eine Verpflichtung dafür geben, die Sicherheit und das Wohlbefinden ALLER Studierenden zu schützen.“[4]

Was Duncan für den universitären Bereich fordert, lässt sich problemlos auf die Gesamtgesellschaft übertragen. Menschen dürften sich grundsätzlich eher für soziale Verbesserungen engagieren, wenn ihnen nicht ständig vermittelt wird, dass sie selbst – etwa wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit – ausgeklammert werden und ihnen der Genuss dieser Verbesserungen vorenthalten bleibt.

Während dies bis hierhin sofort einsichtig sein müsste, habe ich indes die Verkettung von Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Männer bislang nur behauptet. Da diese Verkettung kaum bekannt ist (sie ist in feministischen Texten und dementsprechend auch in unseren Leitmedien nur selten Thema), muss sie eigens erklärt werden.[5]

Beginnen wir hier am besten mit dem Thema „Gewalt in der Partnerschaft“. Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Deborah Capaldi weist in ihrer Studie „From Ideology to Inclusion 2009: New Directions in Domestic Violence Research and Intervention“ auf einen oft übersehenen Faktor bei häuslicher Gewalt hin: Die Höhe des Risikos einer Frau, Opfer zu werden, hängt auch davon ab, wie sehr sie selbst dazu neigt, häusliche Gewalt auszuüben. Schließlich handele es sich hierbei um einen Prozess, bei dem Gewalthandlungen einander in vielen Fällen gegenseitig bedingen. So zeige sich bei Studien über Frauen, die in einem Frauenhaus lebten, dass zwei Drittel von ihnen im vergangenen Jahr selbst schwere Gewalt gegen ihren Partner ausgeübt hatten. Viele Männer, die in der Partnerschaft mit einer Frau körperlich aggressiv sind, weisen bei einer anderen, friedlicheren Partnerin ein gänzlich anderes Verhalten auf. All dies, so Capaldi, zeige, dass die gängigen Versuche, häusliche Gewalt allein als „Männergewalt“ zu bekämpfen, wobei der tatsächliche Stand der Forschung ignoriert wird, auch Frauen weit eher schaden als nutzen.[6]

Häusliche Gewalt tritt aber nicht nur geschlechter-, sondern auch generationenübergreifend auf: Wenn also die Mutter gegenüber dem Vater körperlich aggressiv wird, „lernt“ häufig auch der Sohn, dass Gewalt ein Mittel zur Konfliktlösung darstellen kann. Wird der Vater gegenüber der Mutter körperlich aggressiv, „lernt“ die Tochter dasselbe. Die Mehrzahl der Menschen, die als Erwachsene zu Gewalthandlungen neigen, waren als Kinder selbst Opfer von häuslicher Gewalt – häufig von einem Angehörigen des anderen Geschlechts.[7] Über männliche Opfer in diesem Bereich zu schweigen und ihnen nicht die nötige Hilfe zukommen zu lassen, bedeutet im Endeffekt, dass auch mehr Frauen Opfer von Gewalt in der Partnerschaft werden.

Auch was sexuelle Gewalt angeht, hilft es, sich klar zu machen, dass Männer darauf keineswegs stärker ausgerichtet sind als Frauen. Zunächst einmal wird die Bereitschaft von Männern, sexuelle Übergriffe zu begehen, durch aufhetzende Parolen wie „Rape Culture“ massiv überschätzt. „Die modische Vorstellung, dass alle Männer irgendwie für eine Kultur der Vergewaltigung und Gewalt verantwortlich sind, wird nicht durch die Beweise gestützt“, erklärt hierzu die Publizistin Claire Lehmann. „Verbrechen im Allgemeinen, einschließlich Verbrechen gegen Frauen, werden überwiegend von einer Minderheit der Bevölkerung begangen. In Schweden beispielsweise ergab eine Studie, die von 1975 bis 2004 mehr als zwei Millionen Menschen betrachtete, dass nur ein Prozent der Bevölkerung für 63,2 Prozent aller erfassten Verbrechen verantwortlich war – fast doppelt so viele wie die anderen 99 Prozent zusammen. Das ist ein winziger Prozentsatz der Bevölkerung, der für die große Mehrheit der Übergriffe verantwortlich ist.“[8]

Wenn man hingegen Studenten nach ihrer Meinung über Themen im Zusammenhang mit Sexualität und Gewalt befragt, zeigen sich so gut wie keine Unterschiede zwischen den Meinungen von Männern und Frauen. Beide Geschlechter vertraten in einer entsprechenden Untersuchung dieselben moralischen Ansichten. Interessant war allein, dass die Frauen bei den Männern eine fragwürdigere Einstellung vermuteten. Sie dachten beispielsweise, dass Männer eher an die althergebrachten Geschlechterrollen glaubten, Gewalt in Beziehungen eher akzeptierten oder noch von solchen Dingen überzeugt waren, wie dass man eine Frau gar nicht gegen ihren Willen vergewaltigen könne. Dies alles war aber keineswegs der Fall.[9]

Dass ein Vergewaltiger alles andere als der typische junge Mann von nebenan ist, weiß die psychoanalytische Forschung schon seit Jahren. Viele dieser Gewalttäter weisen eine emotionale und sexuelle Entwicklungsstagnation auf, die schon in der Kindheit entstanden ist – oft durch eine dominierende Mutter.[10] Männer, die sexuelle Gewalttaten begehen, stammen in der Regel aus zerrütteten Familien, weisen zahlreiche andere Symptome psychischer Instabilität auf, sind schlecht in die Gemeinschaft integriert und zeigen generell antisoziale Tendenzen.[11] All diese schwerwiegenden psychischen Störungen sind oft schon in der Kindheit angelegt.

Drei unabhängig voneinander durchgeführte Studien über Vergewaltiger aus den Jahren 1979, 1984 und 1993 weisen sämtlich auf eine alarmierend hohe Rate von vorangegangenem sexuellen Missbrauch dieser Männer durch Frauen hin: einmal zu 59 Prozent[12], ein anderes Mal zu 66 Prozent,[13] die neueste dieser Studien spricht sogar von 80 Prozent.[14] Eine kanadische Untersuchung über missbrauchte Männer kommt zu dem Schluss: „Männliche heranwachsende Sexualtäter, die von Frauen missbraucht worden waren, suchen sich fast ausschließlich Frauen als Opfer aus.“[15]

„Es ist nicht so, dass schlechte Männer die Schuld von bösen Frauen sind“, erklärt hierzu die Aggressionsforscherin Patricia Pearson, „aber ein Geschlecht vom anderen als tugendhaft oder tadelnswert abzugrenzen heißt, einer falschen Spur zu folgen, wenn es darum geht, die Gründe für Gewalt zu verstehen. Wenn ein Mann körperliche oder sexuelle Gewalt von seiner Mutter lernte, was nützt es uns, wenn wir die Schuld auf seine Männlichkeit schieben, ihn dazu erziehen, nicht sexistisch zu sein, oder ‚Gewalt gegen Frauen‘ beklagen, so als ob Frauen nicht zu dieser Gewaltspirale beitragen würden?“[16]

Wenn sich etwa bei einer Untersuchung von 75 Sexualstraftätern herausstellt, dass 27 Prozent von ihnen als Kinder körperlich misshandelt wurden und 48 Prozent sexuelle Missbrauchserfahrungen hatten,[17] werden solche Hintergründe von der Öffentlichkeit in der Regel nicht zur Kenntnis genommen. „Ich will nichts wissen über die Verfassung eines Vergewaltigers – ich will ihn umbringen!“ erklärte hierzu einmal die feministische Avantgardekünstlerin Diamada Galás. „Es ist mir egal, ob er schwarz oder weiß ist, ob er aus der Mittelklasse kommt oder arm ist, ob seine Mutter ihn an den Eiern an der Wäscheleine aufgehängt hat: Ich möchte ihn einfach nur umbringen!“[18] Man könnte sexuelle Gewalt gegen Frauen erfolgreicher bekämpfen, wenn man auch weibliche Sexualgewalt gegen Jungen ernster nehmen würde.

Von ihrem Hintergrund her ähneln männliche und weibliche Vergewaltiger einander sehr. So haben auch vergewaltigende Frauen oft eine Vorgeschichte selbst erlittener sexueller Gewalt oder kommen aus gleichermaßen zerrütteten Familienverhältnissen[19] und sind ebenso wie Männer in der Lage, diese Negativerfahrungen gewaltsam an Dritte weiterzugeben.[20] Sie zeigten auch dieselben Fehlbildungen ihrer Persönlichkeit auf wie männliche Vergewaltiger, etwa eine geringe Toleranzschwelle gegenüber Frustrationen, die Neigung, andere Menschen zu Objekten zu reduzieren und zu manipulieren, oder das Fehlen von Schuldgefühlen und Reue.[21] Nur zwei von 16 in einer Untersuchung befragten Vergewaltigerinnen wurden durch ihre Tat sexuell erregt, aber sieben nannten als Motive für ihre Angriffe „Wutgefühle, Rache, Macht, Eifersucht und zuvor erlittene Abweisung“.[22]

Der Geschlechterforscherin Lara Stemple von der Universität Los Angeles zufolge waren auch viele weibliche Sexualstraftäter zuvor Opfer sexueller Gewalt geworden – mit mehr Tätern und in einem früheren Alter als Frauen, die andere Verbrechen begangen haben. Um sexuelle Gewalt wirklich erfolgreich zu bekämpfen, führt Temple aus, müsse man allen Opfern und Tätern Aufmerksamkeit widmen – unabhängig von ihrem Geschlecht.[23] Auch Karen Duncan weist darauf hin, dass sowohl weibliche als auch männliche Sexualverbrecher zuvor häufig selbst Opfer sexueller Gewalt geworden waren.[24]

Eine Geschlechterpolitik, die sich wie bisher nur auf weibliche Opfer und männliche Täter konzentriert, schadet aber nicht nur den männlichen Opfern von Gewalt in der Partnerschaft sondern auch den Täterinnen. So berichtet der Anti-Gewalt-Berater und -Pädagoge Burkhard Oelemann, die Ausblendung der Täterschaft von Frauen führe dazu, dass sich Frauen, die schlagen, in herkömmlichen Beratungen nicht ernst genommen fühlen.

„Viele der Frauen, die uns aufsuchen“, so Oelemann, „berichten übereinstimmend, dass sie vorher zum Teil mehrere Anläufe unternommen hatten, sich professionell wegen ihrer eigenen Gewalttätigkeit beraten zu lassen. Doch sie begegneten in der Regel Beraterinnen, die sie als Opfer sahen – nicht aber als Täterin. Eine Frau sprach neulich davon, dass man ihr in einer Familien- und Eheberatungsstelle aktiv einreden wollte, sie würde gleichsam in Notwehr ihren Partner schlagen. Als sie dann mehrfach widersprach, weil sie eben allein initiativ in Krisen oder Konfliktsituationen ihren Partner schlägt, erntete sie nur Kopfschütteln und Unverständnis bis hin zur Wut, ob sie denn nicht endlich verstehen würde oder könnte, dass natürlich der Partner auch für ihr Schlagen verantwortlich sei … Beinahe niemand glaubt einer Täterin ihr Tatverhalten. Frauen haben Opfer zu sein, Punkt.“

Aber nicht nur die männlichen Opfer und weiblichen Täter, auch Fachleute haben es schwer, gegen eine sexistisch ausgerichtete Szene in diesem Bereich anzukommen. Oelemann beispielsweise berichtet weiter, dass er nur solange als Anti-Gewalt-Berater auf offene Türen stieß, solange er über Gewalt von Männern sprach:

„Mit zunehmender Bekanntheit wurden wir zunächst von der damaligen Frauen-Politik geradezu hofiert, und wir bekamen sehr viel mediale Aufmerksamkeit. (…) Sprach ich jedoch von Frauen als Tätern wurde sofort relativiert, verleugnet und einige Frauen reagierten sehr wütend, ja beinahe cholerisch. Ich wurde beschimpft, und mir wurde vorgehalten, ich solle mich als Mann gefälligst um Männer und Jungen als Täter kümmern – obwohl ich mit zu den ersten gehörte, die genau dies in Deutschland getan hatten. (…) Die extremste Reaktion erlebte ich um die Jahrtausendwende herum auf einem Kongress in Düsseldorf, auf dem auch Professor Michael Bock über die Einseitigkeit des Gewaltschutzgesetzes sprach. Er wurde ausgepfiffen und niedergeschrien von allen ‚Expertinnen‘ jedweder politischer oder sozialer Couleur, die auf dem Podium saßen oder als Gäste geladen waren.“

Oelemann bezeichnet diesen Widerstand und die Versuche, weibliche Täterschaft in ein Opfer-Sein umzudeuten, als „vorauseilende gesellschaftliche Absolution“. Dieser fatale Automatismus stelle „einen wesentlichen Bestandteil im weiblichen Gewaltkreislauf dar – und einen klaren Unterschied zum männlichen Gewaltkreislauf, wo es diesen Widerstand schlicht nicht gibt.“ Und er zieht das Fazit: „Wenn wir weiterhin über die weibliche Täterschaft bei häuslicher Gewalt schweigen und die politisch Verantwortlichen weiterhin keine niedrigschwelligen Angebote für Frauen präsentieren, die misshandeln, sondern weiterhin deren Gewalt leugnen, wird sie eskalieren.“[25]

Bis hierhin sind drei zentrale Gründe dafür genannt worden, weshalb es auch Frauen nutzt, wenn das Leiden von Männern ernst genommen werden würde:

* Männer dürften sich mehr bei der Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt engagieren, wenn ihnen dieser Schutz selbst nicht länger vorenthalten bleibt.

* Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Männer sind oft miteinander verkettet.

* Und auch Täterinnen benötigen Hilfe.

Ein vierter Grund ist, dass eine geschlechtsbezogene Auswahl „hilfswürdiger“ Opfer sexistische Geschlechterbilder verstärkt. Darauf weist Lara Stemple in einem ihrer Fachaufsätze zur sexuellen Gewalt hin. In diesem Aufsatz heißt es:

„Einige zeitgenössische Gender-Theoretiker haben den überwältigenden Fokus auf weibliche Viktimisierung in Frage gestellt, nicht nur, weil sie männliche Opfer unter den Teppich kehrt, sondern auch, weil sie dazu dient, regressive Vorstellungen von weiblicher Verletzlichkeit zu verstärken. Wenn die Schäden, die Frauen erleiden, als deutlich mehr verbreitet und besorgniserregender dargestellt werden, kann dies Normen aufrechterhalten, in denen Frauen als entmachtete Opfer gelten und die die Vorstellung verstärken, dass Frauen ‚edel, rein, passiv und unwissend‘ sind. In diesem Zusammenhang kann die Behandlung der männlichen sexuellen Viktimisierung als seltenes Ereignis Männern und Jungen regressive Erwartungen an die Männlichkeit aufzwingen. Der Glaube, dass Männer nur selten Opfer sind, fördert ein kontraproduktives Konstrukt dessen, was es bedeutet, ‚ein Mann zu sein‘. Das kann genau jene Vorstellung von naturalistischer Männlichkeit verstärken, die die feministischen Theorie, die Männlichkeit als sozial konstruiert betrachtet, sonst kritisiert. Die Erwartungen an die männliche Unbesiegbarkeit sind für Männer und Jungen einschränkend; sie können auch Frauen und Mädchen schaden, indem sie regressive Geschlechternormen aufrechterhalten.“[26]

Stemple erinnert daran, dass es Feministinnen gelungen ist, „Vergewaltigungsmythen“ zu überwinden, denen zufolge eine Frau selbst schuld daran trage, wenn sie das Opfer eines sexuellen Übergriffes werde, sei es aufgrund der Wahl ihrer Kleidung, sei es aufgrund einer allgemeinen Aufgeschlossenheit zu Intimkontakten.

„Für Männer ist ein ähnlicher Diskurs nicht entwickelt worden. Tatsächlich stellen zeitgenössische soziale Erzählungen, einschließlich Witze über Gefängnisvergewaltigungen, die Vorstellung, dass ‚echte Männer‘ sich selbst schützen können, und der Irrtum, dass schwule männliche Opfer wahrscheinlich ‚darum gebeten haben‘, Hindernisse für Männer dar, mit ihrer Viktimisierung fertig zu werden. Die sexuelle Erregung eines männlichen Opfers, die nicht ungewöhnlich ist, kann zu dem Missverständnis beitragen, dass die Viktimisierung ein willkommenes Ereignis war. Gefühle der Verlegenheit, die Angst des Opfers, dass ihm nicht geglaubt wird, und der Glaube, dass schon das Berichten über einen solchen Übergriff unmännlich ist, wurden alle als Gründe für die männliche Hemmung gegen die Meldung sexueller Viktimisierung angeführt. Die populären Medien spiegeln auch Unempfindlichkeit, wenn nicht gar Gefühllosigkeit gegenüber männlichen Opfern wider.“[27]

Glücklicherweise sind wir dieser Entwicklung nicht machtlos ausgeliefert. Es gibt elf einfache Dinge, mit denen jeder und jede dabei helfen kann, Gewalt gegen Männer zu unterbinden:

1. Betrachten Sie geschlechtsbezogene Gewalt als ein Thema auch für Männer, nicht nur für Frauen. Erkennen Sie, dass diese Gewalt Männer aller Altersgruppen, ethnischer Herkunft und sozioökonomischen Ebenen treffen kann. Betrachten Sie Frauen nicht nur als potentielle oder tatsächliche Täterinnen, sondern auch als Zuschauerinnen, die übergriffigen Mitgliedern ihrer Gruppe Einhalt gebieten können.

2. Wenn Ihre Schwester, Freundin, Klassenkameradin oder Mannschaftskameradin ihren männlichen Partner misshandelt, schauen Sie nicht weg. Wenn Sie sich dabei wohl fühlen, versuchen Sie, mit ihr darüber zu sprechen. Drängen Sie sie, Hilfe zu suchen. Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun sollen, wenden Sie sich an einen Freund, einen Elternteil, einen Professor oder einen Berater. SCHWEIGEN SIE NICHT.

3. Wenn Ihre Schwester, Freundin, Klassenkameradin oder Mannschaftskameradin respektlos beziehungsweise herabsetzend gegenüber Jungen und Männern im Allgemeinen auftritt, legen Sie Widerspruch ein. Sexistische Herabsetzungen können eine Form emotionaler Gewalt darstellen und körperlicher Gewalt den Weg bereiten.

4. Haben Sie den Mut, nach innen zu schauen. Stellen Sie Ihre eigene Einstellung in Frage. Seien Sie nicht defensiv, wenn etwas, was Sie tun oder sagen, jemand anderen unnötig verletzt. Versuchen Sie zu verstehen, wie Ihre eigenen Einstellungen und Handlungen dazu beitragen können, Sexismus und Gewalt aufrecht zu erhalten, und arbeiten Sie daran, sie zu verändern.

5. Wenn Sie den Verdacht haben, dass ein Ihnen nahe stehender Mann häusliche oder sexuelle Gewalt erlitten hat, fragen Sie sanft, ob Sie helfen können.

6. Wenn Sie sich selbst gegenüber Männern mit psychischer Gewalt, mit körperlicher Gewalt oder sexuell übergriffig verhalten oder verhalten haben, suchen Sie JETZT professionelle Hilfe.

7. Seien Sie ein Verbündeter von Männern, die sich für die Beendigung aller Formen geschlechtsspezifischer Gewalt einsetzen. Unterstützen Sie die Arbeit von Männeraktivisten in diesem Bereich. Nehmen Sie an öffentlichen Veranstaltungen im maskulistischen Spektrum teil. Sammeln Sie Geld für Notunterkünfte auch für männliche Opfer häuslicher Gewalt. Wenn Sie einem Team oder einer Studentengruppe angehören, organisieren Sie eine Spendenaktion.

8. Erkennen Sie und sprechen Sie sich gegen Homophobie und Hass auf Schwule aus. Diskriminierung und Gewalt gegen Lesben und Schwule sind an und für sich falsch. Dieser Missstand hat aber auch direkte Verbindungen zum Sexismus. So wird die sexuelle Orientierung von Männern, die sich gegen männerfeindlichen Sexismus aussprechen, oft in Frage gestellt: eine bewusste oder unbewusste Strategie, um sie zum Schweigen zu bringen.

9. Nehmen Sie an Programmen und Kursen teil, sehen Sie sich Filme an und lesen Sie Artikel und Bücher über Geschlechterungleichheit und die Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt, solange jeweils beide Geschlechter als Opfer und Täter berücksichtigt werden. Informieren Sie sich und andere darüber, wie sich soziale Probleme auf die Konflikte zwischen Männern und Frauen auswirken.

10. Finanzieren Sie keinen Sexismus. Weigern Sie sich, eine Zeitschrift zu kaufen, ein Video zu mieten, eine Website zu abonnieren oder Musik zu kaufen, die Jungen oder Männer in einer herabsetzenden Weise darstellt. Protestieren Sie gegen Sexismus in den Medien.

11. Arbeiten Sie freiwillig mit Programmen zur Verhütung geschlechtsspezifischer Gewalt, einschließlich antisexistischer Programme, die Sexismus gegen beide Geschlechter berücksichtigen. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran.[28]

Alles, was in diesen elf Punkten bezüglich Männern gesagt wurde, gilt natürlich für Frauen genauso: Anders als es bislang oft präsentiert wurde, gilt eine sinnvolle Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt eben für beide Geschlechter.


[1] Vgl. Hoffmann, Arne: Sind Frauen bessere Menschen? Schwarzkopf & Schwarzkopf 2001, S. 556.

[2] Vgl. Duncan, Karen: Female Sexual Predators. Praeger 2010, S. 10.

[3] Vgl. Duncan, Karen: Female Sexual Predators. Praeger 2010, S. 81-82.

[4] Vgl. Duncan, Karen: Female Sexual Predators. Praeger 2010, S. 100.

[5] Dieser thematische Schwerpunkt dieses Beitrags führt notwendigerweise dazu, dass Themen wie „Männer als Opfer von Gewalt durch andere Männer“ sowie „Frauen als Opfer von Gewalt durch andere Frauen“ zu kurz kommen, was nicht bedeutet, dass diese Konstellationen unbedeutend wären.

[6] Vgl. Sacks, Glenn: Researcher Says Women’s Initiation of Domestic Violence Predicts Risk to Women. in: Huffington Post vom 6.8.2009, online unter http://www.huffingtonpost.com/glenn-sacks/researcher-says-womens-in_b_222746.html  Zur Klarstellung: Es gibt auch zahlreiche Fälle von häuslicher Gewalt, die einseitig verläuft. Wenn man dies vernachlässigt, besteht das Risiko, dass Personen, die tatsächlich nur Opfer häuslicher Gewalt sind – egal welchen Geschlechts – in den Verdacht geraten auch Täter zu sein, selbst wenn sie dies nicht sind.

[7] Vgl. Herrenkohl, Ellen; Herrenkohl, Roy und Toedter, Lori: Perspectives on the Intergenerational Transmission of Abuse. In David Finkelhor und andere (Hrsg.): The Dark Side of Families. Current Family Violence Research. Sage 1983, S. 305-316 sowie Wetzels, Peter: Gewalterfahrungen in der Kindheit. Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlungen und deren langfristige Konsequenzen. Nomos 1997.

[8] Vgl. Lehmann, Claire: Eurydice Dixon: ‘Rape culture’ facts just don’t fit. In: The Weekend Australian vom 23.6.2008. Online einsehbar unter http://archive.is/hiVC5#selection-1717.0-1717.51.

[9] Vgl. Grammer, Karl: Signale der Liebe. Die biologischen Ge setze der Partnerschaft. München 1995, S. 416.

[10] Vgl. Hollstein, Walter: Der Kampf der Geschlechter. Frauen und Männer im Streit um Liebe und Macht und wie sie sich verständigen können. München 1995, S. 228-229.

[11] Vgl. Batten, Mary: Natürlich Damenwahl. Die Paarungsstrategien in der Natur. München 1994, S. 138; Grammer, Karl: Signale der Liebe. Die biologischen Ge setze der Partnerschaft. München 1995, S. 421 sowie West, Donald u. a.: Understanding Sexual Attacks. London 1978, S. xiii-xiv.

[12] Vgl. Petrovich, M. und Templer, D. L: Heterosexual molestation of children who later become rapists. In: Psychological reports, Nr. 54 (3), 1984, S. 810 zitiert nach van den Brock, Jos: Verschwiegene Not: Sexueller Missbrauch an Jungen. Zürich 1993, S. 36.

[13] Vgl. Groth, A. N.: Sexual trauma in the life histories of rapists and child molesters. In: Victimology: An International Journal, Nr. 4 (l), 1979, S. 10-16.

[14] Vgl. Briere, J. und Smiljanich, K.: Childhood sexual abuse and subsequent sexual aggression against adult women. Paper presented at the l0lst. annual convemion of the American Psychological Association, Toronto, Ontario, 1990.

[15] Vgl. Mathews, Frederick: The Invisible Boy. Revisioning the Victimization of Male Children and Teens. Community Psychologist Central Toronto Youth Services. For: The National Clearinghouse on Family Violence Health Canada, 1996.

[16] Vgl. Pearson, Patricia; When She Was Bad: Violcnt Women and the Myth of Innocence. New York 1997, S. 112-113.

[17] Vgl. Krebber, Werner: Sexualstraftäter im Zerrbild der Öffentlichkeit. Hamburg 1999, S. 64.

[18] Vgl. Juno, Andrea: Angry Women. Die weibliche Seite der Avantgarde. Andrä-Wördern 1997, S. 14.

[19] Vgl. Mayer, Adele: Women Sex Offenders. Holmes Beach 1992, S. 53-58.

[20] Vgl. Cochran, Donald und Brown, Marjorie: Women Who Rape. Boston 1984, S. 2.

[21] Vgl. Mayer, Adele: Women Sex Offenders. Holmes Beach 1992, S. 59.

[22] Vgl. Pearson, Patricia; When She Was Bad: Violcnt Women and the Myth of Innocence. New York 1997, S. 191. Glaubt man Evolutionspsychologen, spielen bei Männern hingegen sexuelle Motivationen eine größere Rolle: „Vor allem junge Frauen im reproduktiven Alter sind Opfer von Vergewaltigungen. 70 Prozent aller Vergewaltigungsopfer sind zwischen 16 und 35 Jahre alt.“ Vgl. Buss, David: Evolutionäre Psychologie. Pearson Studium, 2004, 2., aktualisierte Auflage, S. 417. Das von vielen Feministinnen gebetsmühlenhaft wiederholte Mantra, bei sexueller Gewalt gehe es nicht um Sex, sondern um Macht, wäre demnach verzerrend vereinfacht.

[23] Vgl. Stemple, Lara und Meyer, Ilan: Sexual Victimization by Women Is More Common Than Previously Known. In: Scientific American vom 10.10.2017, online unter https://www.scientificamerican.com/article/sexual-victimization-by-women-is-more-common-than-previously-known.

[24] Vgl. Duncan, Karen: Female Sexual Predators. Praeger 2010, S. 23. Siehe auch: Johansson-Love, Jill and Fremouw, William: Female Sex Offenders: A Controlled Comparison of Offender and Victim/Crime Characteristics. In: Journal of Family Violence Nr. 24, 6/2009, S. 367-376. Online unter https://www.researchgate.net/publication/226528907_Female_Sex_Offenders_A_Controlled_Comparison_of_Offender_and_VictimCrime_Characteristics. Zitiert nach Duncan, Karen: Female Sexual Predators. Praeger 2010, S. 24.

[25] Vgl. Hoffmann, Arne im Interview mit Oelemann, Burkhard: „Die Lynchaufrufe sind ein logisches Produkt jahrzehntelanger Dämonisierung“. Online seit dem 9.4.2012 unter http://cuncti.net/lebbar/117-burkhard-oelemann-qdie-lynchaufrufe-sind-ein-logisches-produkt-jahrzehntelanger-daemonisierungq.

[26] Vgl. Stemple, Lara und Meyer, Ilan: The sexual victimization of men in America: new data challenge old assumptions. In: Am J Public Health, Vol. 104, Nr. 6/2014, S. e19–e26, online unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4062022. Siehe vertiefend Stemple, Lara und andere: Sexual Victimization Perpetrated by Women: Federal Data Reveal Surprising Prevalence. In: Aggression and Violent Behavior vom 11. Januar 2016, online unter https://www.researchgate.net/publication/308844135_Sexual_Victimization_Perpetrated_by_Women_Federal_Data_Reveal_Surprising_Prevalence sowie Salcuni, Erica: Rape Happens Almost Just as Often to Men. Online seit dem 30.4.2014 unter http://guardianlv.com/2014/04/rape-happens-almost-just-as-often-to-men.

[27] Vgl. Stemple, Lara und Meyer, Ilan: The sexual victimization of men in America: new data challenge old assumptions. In: Am J Public Health, Vol. 104, Nr. 6/2014, S. e19–e26, online unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4062022..

[28] Diese elf Tipps spiegeln die leider sexistische Vorlage „10 Things Men Can Do to Prevent Gender Violence“ von MVP Strategies und mit Copyrightshinweis auf Jackson Katz. Sie steht online unter https://jacksonkatz.com/wp-content/uploads/2016/10/10-Things-Flyer.pdf. Dass viele Trainer, Berater und Aktivisten bei der Bekämpfung geschlechtsbezogener Gewalt einen radikal sexistischen Ansatz verfolgen (und dafür gefeiert werden), ist das wohl größte Problem in diesem Bereich.