Lexikon der feministischen Irrtümer

Politisch korrekte Vorurteile und männerfeindliche Mythen auf dem Prüfstand der Wissenschaft

von Arne Hoffmann

„Frauen sind von Depressionen besonders stark betroffen.“

DIE WAHRHEIT HINTER DEM BELIEBTEN IRRTUM:

„Jahrzehntelang haben feministische Wissenschaftler dargelegt, welchen Zwängen ein Mädchen im Laufe seiner Entwicklung unterworfen ist und welche zum Teil katastrophalen Auswirkungen diese auf ihr Selbstwertgefühl haben“, berichtet der US-amerikanische Psychologe Terrence Real in einem Fachbuch über Depressionen. „Es ist an der Zeit, den entsprechenden Vorgang im Leben von Jungen und Männern zu erforschen.“ [1] Die bisherige Einseitigkeit bei diesem Thema ist nämlich Folge einer fehlerhaften Wahrnehmung. „Frauen leiden nicht häufiger als Männer unter Depressionen, aber sie klagen häufiger darüber“, erklärt der US-amerikanische Geschlechterforscher Warren Farrell. „Neuere Studien belegen, dass Klinikärzte bei Männern in zwei Dritteln aller Fälle eine Depression nicht erkennen, bei Frauen in der Hälfte aller Fälle. Bei Frauen wird auch mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Depression diagnostiziert, von der sich später herausstellt, dass es keine war“. [2]

Auf solche Unsauberkeiten in der Forschung bezieht sich auch die kritische Feministin Carol Tavris: Das Problem beginnt damit, dass Frauen eher über ihre Gefühle reden und natürlich das Vorurteil kennen, sie würden vermehrt zu Depressionen neigen. Beides führt dazu, dass sie wegen ihrer Schwermut schneller einen Arzt aufsuchen. Dazu kommt, dass sich die klinische Definition dessen, welcher Zustand als „Depression“ eingeordnet wird, eben wegen dieser Vorurteile eher an typisch weiblichem Verhalten in diesen Fällen orientiert: Weinen, Im-Bett-Bleiben, Ess-Störungen, Klagen. [3] Männern wird dieses Verhalten durch die Erwartungen an ihre Geschlechterrolle schwerer gemacht. So fanden die Psychologen Hammen und Peters bei der Untersuchung mehrerer hundert College-Studenten heraus, dass Studentinnen, die sich bei einer Depression hilfesuchend an ihre Mitbewohnerinnen wandten, auf fürsorgliche und einfühlsame Reaktionen stießen. Männer in derselben Situation mussten jedoch mit sozialer Isolation, wenn nicht gar offener Feindseligkeit seitens ihrer Zimmergenossen rechnen. [4] Eine andere Studie zeigte, dass sowohl wenn die Befragten eine Depression selbst durchgemacht, als auch wenn sie sie bei einem Familienmitglied miterlebt hatten, diese Störung bei Männern nicht als Krankheit erkannt, sondern für ein Zeichen persönlicher Schwäche gehalten wurde. [5]

Es verwundert also nicht, wenn zum Beispiel Jungen anderen Menschen negative Gefühle seltener mitteilen als Mädchen und sie auf Nachfragen abstreiten. Oft zeigen diese Gefühle sich nur in einer Unfähigkeit, mit Freunden zu entspannen, oder mangelndem Interesse daran, um die Häuser zu ziehen. Auf die Frage, ob sie sich daran erinnerten, sich im Laufe des letzten Monats traurig, angewidert, schuldig oder ängstlich gefühlt zu haben, antworteten die meisten Jungen mit „nein“. Aber wenn sie ein Tagebuch über ihre Gefühle geführt hatten, fand man sie alle darin. [6]

Wenn Männer ihren Blues also nicht öffentlich blasen dürfen, wie äußert er sich dann? In der Regel schlägt er um in eine bunte Palette anderer Symptome: Arbeitswut, Trinken, Spielsucht, eine hochaggressive Fahrweise, Konzentrationsstörungen, berufliche Probleme bis hin zu Fahrlässigkeit oder Selbstsabotage, extreme Unruhe und starker Bewegungsdrang, Unfähigkeit zu menschlicher Nähe, etliche psychosomatische Störungen und Stress-Symptome. [7] Allerdings gibt es Verhaltensformen, die noch selbstzerstörerischer und sozialschädlicher sind. Wenn man etwa Suchtmittelabhängigkeiten oder antisoziale Persönlichkeitsstörungen zu den depressiven Störungen zählt, dann gleicht sich das pathologische Niveau zwischen den Geschlechtern in diesem Bereich fast vollständig an. [8] Auch dies ist ein ernstzunehmender Hinweis darauf, dass sich Depressionen bei Männern nur anders äußern als bei Frauen.

Männer dürfen nicht verletzlich sein. Wenn doch, muss der Schmerz möglichst schnell überwunden werden. Insgeheim ist das die Vorstellung, die nicht nur in den Köpfen von Freunden und Verwandten, sondern auch vieler Psychologen vorherrscht. Diese gesellschaftliche Verdunkelungstaktik führt zu verheerenden Auswirkungen, wie Terence Real beschreibt, der sich speziell mit diesem Thema befasst hat: „Zwischen sechzig und achtzig Prozent aller depressiven Menschen bekommen nie Hilfe. Das Schweigen, das die Depression umgibt, ist umso trauriger, als ihre Behandlung eine hohe Erfolgsquote aufweist. Nach aktuellen Schätzungen kann der Zustand von achtzig bis neunzig Prozent aller depressiven Patienten mit einer Kombination von Psychotherapie und Medikamenten verbessert werden – vorausgesetzt, sie nehmen überhaupt eine Behandlung in Anspruch.“ [9] Stattdessen stehen viele Männer unter einem so großen Druck wie ein kochender Wasserkessel, dessen Tülle verstopft ist. Dieser Kontrollzwang kann sich nach der Ansicht von Terence Real, aber auch der Psychologin Judith Herman zum Beispiel in Kindesmisshandlung oder Gewalt gegen Frauen äußern. [10]

Wenn das so ist, dann würde das erklären, warum in mancherlei Hinsicht Männer gewalttätiger sind als Frauen – auch wenn dieser Unterschied, wie andere Einträge dieses Lexikons zeigen, oft überschätzt wird. Je stärker sich die Geschlechterrollen einander angleichen, desto eher dürften Frauen auch die Nachteile der Männerrolle zu spüren bekommen. Der Washingtoner Psychologe Alvin Baraff ist überzeugt davon: „Frauen werden weniger Freunde haben. Sie werden ihre eigenen Gefühle weniger stark wahrnehmen. Sie werden dieselben Krankheiten entwickeln.“ [11] Vermutlich nehmen sich auch deshalb so viel mehr Männer als Frauen das Leben, weil sie den mit ihrer Geschlechterrolle verbunden Druck nicht angemessen nach außen abgeben können. [12] Auch dies spricht dafür, dass es höchste Zeit ist, sich um diese Problematik zu kümmern.

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[1] Vgl. Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 18.

[2] Vgl. Farrell, Warren: Mythos Männermacht. Frankfurt am Main 1995, S. 213.

[3] Vgl. Tavris, Carol: The Mismeasure of Woman. New York u. a, 1992, S. 259.

[4] Vgl. Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 34.

[5] Vgl. Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 31.

[6] Vgl. Tavris, Carol: The Mismeasure of Woman. New York u. a, 1992, S. 261.

[7] Vgl. Cose, Ellis: A Man’s World. How Real Is Male Privilege – and How High Is the Price? New York 1995, S. 192; Meryn, Siegfried; Metka, Markus und Kindel, Georg: Der Mann 2000. Die Hormon-Revolution. Wien 1999, S. 327; Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 16; Tavris, Carol: The Mismeasure of Woman. New York u. a, 1992, S. 260.

[8] Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 84-85.

[9] Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 17.

[10] Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 59-64.

[11] Cose, Ellis: A Man’s World. How Real Is Male Privilege – and How High Is the Price? New York 1995, S. 128.

[12] Cose, Ellis: A Man’s World. How Real Is Male Privilege – and How High Is the Price? New York 1995, S. 193.