„Je mehr Gleichberechtigung, desto ausgewogener die Geschlechterrollen.“
DIE WAHRHEIT HINTER DEM BELIEBTEN IRRTUM:
Viele feministische Texte bauen auf einer Rhetorik nach folgendem Muster auf: „Noch immer gibt es in der klassischen Männerdomäne XY nur eine sehr geringe Rate von Frauen. Wenn diese Rate weiter so spärlich anwächst wie bisher, werden wir erst im Jahr 5897 die Gleichberechtigung in Deutschland erreicht haben …“ Wie fundiert ist diese Rhetorik? Ist eine ausgewogene Verteilung von Geschlechterrollen – also beispielsweise ähnlich viele Frauen wie Männer als Elektriker und Informatiker – tatsächlich ein sinnvolles Maß für ein hohes Niveau an Gleichberechtigung?
Tatsächlich ist einmal mehr das Gegenteil von dem wahr, was viele Feministinnen glauben.
„Wir alle wissen, was passieren wird, wenn die Geschlechter gleicher werden“, behauptet Tom Whipple, Wissenschaftsredakteur der Londoner Times.
„Wenn Frauen Glasdecken einschlagen und sich Bildung eröffnen, dann sollten auch andere Unterschiede verschwinden. Ohne die psychologischen Fesseln des zweiten Geschlechts können Frauen frei denken und sich verhalten, wie sie wollen; Physiker oder Geschäftsführer werden, ungehindert von veralteten Stereotypen. Doch zur Bestürzung der Psychologen beobachten wir das Gegenteil. Je mehr Gleichstellung der Geschlechter in einem Land, desto größer ist der Unterschied in der Denkweise von Männern und Frauen. Zwei neue Studien haben diesen gegensätzlichen Befund erneut bewiesen, so dass er heute eine der am besten fundierten Entdeckungen in der Psychologie ist.“ [1]
So fand ein in der internationalen Online-Fachzeitschrift „Plos One“ veröffentlichtes Forschungsprojekt heraus, dass in Ländern, die vom Weltwirtschaftsforum als weniger geschlechtsgleich eingestuft wurden, Frauen eher traditionelle männliche Studiengänge wie die Naturwissenschaften wählten. Und Erik Mac Giolla, leitender Psychologe an der Universität Göteborg, ermittelte nach einer Befragung von rund 130.000 Menschen aus insgesamt 22 Ländern, dass Länder mit mehr Frauen in der Arbeitswelt, im Parlament und in der Bildung auch solche sind, in denen Männer und Frauen aufgrund psychologischer Merkmale stärker voneinander abweichen. „Es scheint, dass mit zunehmender Gleichstellung der Geschlechter, mit zunehmender Fortschrittlichkeit der Länder, Männer und Frauen zu traditionellen Geschlechternormen tendieren“, fasste Mac Giolla diese Forschungsergebnisse zusammen.
„Es ist nicht nur die Persönlichkeit“, ergänzt Steve Stewart-Williams von der University of Nottingham. Das gleiche gegensätzliche Muster wurde in vielen anderen Bereichen gefunden, einschließlich Bindungsstile, Wahl der akademischen Fachrichtung, Berufswahl, Depression, Glück und Interesse am Gelegenheitssex. Mittlerweile gebe es zu viele Beweise für diesen Effekt, als dass man ihn als Zufall betrachten könnte. „Es ist definitiv eine Herausforderung für eine prominente Strömung der feministischen Theorie, nach der fast alle Unterschiede zwischen den Geschlechtern durch kulturelle Ausbildung und soziale Rollen entstehen.“
Stewart-Williams schlägt eine denkbare Erklärung für diesen Effekt vor: Möglicherweise haben diejenigen Menschen, die in wohlhabenderen und geschlechtergerechteren Gesellschaften leben, mehr Freiheit, ihre tatsächlichen Interessen zu verfolgen und sich individueller zu verhalten, wodurch natürliche Unterschiede verstärkt werden. Wenn eine Frau zum Beispiel wirklich eine Beschäftigung ganz nach ihrer Wahl ergreifen möchte, würde sie sich demnach gerade gegen einen typischen Männerjob entscheiden, der ihren tatsächlichen Anliegen und Interessen zuwiderläuft. Das liefe allerdings einer der dominantesten Behauptungen im Feminismus der letzten Jahrzehnte entgegen: dass das Verhalten und die Entscheidungen von Frauen sich deshalb so sehr vom Verhalten und den Entscheidungen der Männer unterscheiden, weil beide Geschlechter darauf gesellschaftlich konditioniert seien. Diese These, die sich als nicht länger haltbar erweist, ist der zentrale Stützpfeiler der sogenannten „Genderstudien“.
Geschlechtsunterschiede sind der aktuellen Forschungslage zufolge gerade kein Produkt von Unterdrückung, stellt Stewart-Williams fest: „Diese Unterschiede können Indikatoren für das Gegenteil sein: eine relativ freie und faire Gesellschaft.“
Ende 2018 wurden diese Erkenntnisse durch eine weitere Studie bestätigt, die von dem Bonner Wirtschaftsprofessor Armin Falk und Johannes Hermle von der University of California in Berkeley durchgeführt und in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde. Grundlage der Forschung war ein Datensatz basierend auf der Befragung von rund 80.000 Personen in 76 repräsentativen Länderstichproben. Die untersuchten Länder deckten sämtliche Kontinente, verschiedene Kulturen und Entwicklungsstufen sowie insgesamt rund 90 Prozent der Weltbevölkerung ab. [2] Ebenfalls im Jahr 2018 veröffentlichte das Fachmagazin Psychological Science eine Studie, für die Gijsbert Stoet in Leeds und David Geary in Columbia verschiedene Länder darauf hin verglichen, wie viele Frauen dort mathematisch-naturwissenschaftliche Berufe wählten. Auch hier zeigte sich: Je weiter die Gleichberechtigung in einem Land umgesetzt war, desto weniger Frauen wählten entsprechende Studienfächer. In skandinavischen Ländern etwa, wo die Emanzipation weit vorangeschritten ist, sind nur 20 Prozent der Absolventen in solchen Fächern weiblich, in Algerien fast die Hälfte. [3]
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[1] Vgl. Whipple, Tom: Patriarchy paradox: how equality reinforces stereotypes. In: Times vom 15.9.2018, online unter https://www.thetimes.co.uk/article/patriarchy-paradox-how-equality-reinforces-stereotypes-96cx2bsrp.
[2] Vgl. Falk, Armin und Hermle, Johannes: Relationship of gender differences in preferences to economic development and gender equality. In: Science vom 19.10. 2018, Vol. 362, online unter http://science.sciencemag.org/content/362/6412/eaas9899.full sowie N.N.: Geschlechterunterschiede bei Präferenzen nehmen in fortschrittlichen Gesellschaften zu. Pressemitteilung, online seit dem 18.10.2018 unter https://news.briq-institute.org/de/2018/10/18/gender-differences-increase-with-economic-development-and-gender-equality.
[3] Vgl. Stoet, Gijsbert und Geary, David: The Gender-Equality Paradox in Science, Technology, Engineering, and Mathematics Education. In: Psychological Science Vol 29, Issue 4/2018, online unter https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0956797617741719 sowie Bernau, Patrick: Was Frauen wirklich wollen. In: Frankfurter Allgemeine vom 3.4.2018, online unter https://blogs.faz.net/fazit/2018/04/03/was-frauen-wirklich-wollen-9836.