Lexikon der feministischen Irrtümer

Politisch korrekte Vorurteile und männerfeindliche Mythen auf dem Prüfstand der Wissenschaft

von Arne Hoffmann

„Sexuelle Belästigung wird weit überwiegend von Männern an Frauen begangen.“

DIE WAHRHEIT HINTER DEM BELIEBTEN IRRTUM:

Im Herbst 2017 brandete angestoßen von Vorwürfen gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein und die sogenannte MeToo-Kampagne eine erneue Debatte über sexuelle Belästigung auch durch Deutschland. „Frauen brechen ihr Schweigen“ titelte der Stern, Talkshows diskutierten das Leiden der weiblichen Opfer. Für Männer hingegen war die Täterrolle vorgesehen.

Damit allerdings wurde die „Sexismus-Debatte“ selbst massiv sexistisch. Denn die Wirklichkeit sieht auch hier anders aus als die mediale Inszenierung. „Jede/r zweite Befragte hat gesetzlich verbotene Belästigungen am Arbeitsplatz schon einmal erlebt“ meldeten etwa viele Medien mit Bezug auf eine Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Komplett „vergessen“ wurde herauszustellen, dass dieser Umfrage zufolge das männliche Geschlecht stärker betroffen war: 56% aller Männer und 49% aller Frauen hatten eine der im Gesetz genannten Belästigungssituationen schon einmal selbst erlebt. [1]

Internationale Zahlen weisen in eine ähnliche Richtung: Dem Wirtschaftsmagazin Forbes zufolge hatten schon im Jahr 2006 mehr Männer als Frauen angegeben, Opfer von Sexismus am Arbeitsplatz geworden zu sein. [2] Der von der American Association of University Women herausgegebenen Studie Drawing the Line: Sexual Harassment on Campus zufolge sind die Betroffenenzahlen fast deckungsgleich: 62 Prozent der weiblichen und 61 Prozent der männlichen Schüler wurden Opfer von sexueller Belästigung. [3] Vier Forscher legten eine Folgestudie an und gelangten zu dem Ergebnis, dass sich die Mehrheit beider Geschlechter sowohl als Opfer wie auch als Täter sexueller Belästigung beschrieben habe, weshalb man das bisherige simple Täter-Opfer-Modell infrage stellen müsse. [4]

Das bestätigte eine Ende 2013 veröffentlichte repräsentative Studie der Universität Lausanne und des Unternehmens „Forschung und Beratung“, die zeigte, dass Frauen und Männer am Arbeitsplatz ähnlich oft sexuell belästigt werden und dass Frauen in fast der Hälfte der Fälle zu den Tätern gehören. 66 Prozent der befragten Frauen und 71 Prozent der befragten Männer räumten ein, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal ein Verhalten gezeigt zu haben, das vom Gegenüber als belästigend hätte empfunden werden können. [5] Dieses Verhältnis zeigt sich auch innerhalb bestimmter Berufsfelder: So outeten sich in einer Umfrage über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, die die ehemalige Stewardess Sylvia Gaßner unter Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern durchführte, Männer fast genauso häufig als Betroffene wie Frauen. [6]

„Männer häufiger von Übergriffen im Job betroffen als Frauen“ titelte die Wirtschaftswoche im März 2015. In dem Artikel hieß es:

„Der Klaps auf den Po, eine anzügliche Bemerkung oder E-Mail mit eindeutigem Angebot: Eine neue Studie zeigt, dass mehr als die Hälfte der Beschäftigten schon einmal am Arbeitsplatz belästig wurden. Überraschend: Laut Umfrage sind Männer häufiger betroffen als Frauen.“ [7]

Grundlage für diese Erkenntnisse war eine Studie, die vom Sozialwissenschaftlichen Umfragezentrum Duisburg (SUZ) im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchgeführt worden war. Darin zeigte sich: Eine der im Gesetz genannten Belästigungssituationen selbst schon einmal erlebt hatten 49 Prozent der Frauen und 56 Prozent der Männer. [8]

Diese Erkenntnis läuft aber offenbar so sehr sexistischen Klischees entgegen, dass sie nur schwer zu verarbeiten ist. So schafft es dieselbe Antidiskriminierungsstelle, in ihrem Leitfaden „Was tun bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz?“ folgenden Satz unterzubringen: „In der überwältigenden Mehrheit der bekannten Fälle sind Frauen von sexueller Belästigung betroffen.“ [9]

Noch bemerkenswerter war, wie Spiegel-Online mit diesen Angaben umging. In einem Artikel, der über sexuelle Belästigung berichtete, wurden die Zahlen einfach zwischen den Geschlechtern vertauscht, auf dass sie wieder in das Raster der diskriminierten Frau passten:

„Tatsächlich werden Frauen immer wieder Ziel von sexueller Belästigung, etwa am Arbeitsplatz. Eine Studie für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes vom vergangenen März zeigt das deutlich: Insgesamt haben 56 Prozent der Frauen schon einmal in ihrem Berufsleben eine Situation erlebt, die gesetzlich als sexuelle Diskriminierung gilt, und 49 Prozent der Männer.“

Erst nachdem ich auf meinem Blog Genderama diese Falschdarstellung öffentlich gemacht hatte, [10] wurde der Spiegel-Online-Artikel umgeschrieben und durch eine Anmerkung ergänzt:

„In einer früheren Fassung des Artikels wurden zwei Zahlen verwechselt, sodass der Eindruck entstand, Männer seien insgesamt seltener von Diskriminierung betroffen. Wir haben die Passage korrigiert.“ [11]

Warum aber gibt es bei der bestehenden Sachlage keinen Aufschrei von Männern, der sich mit dem von Frauen messen kann? Zum einen liegt das schlicht daran, dass es eine starke und medial hervorragend verankerte feministische Lobby gibt, während die schwächere maskulistische Lobby ignoriert, angefeindet oder herabgesetzt wird. Zum anderen prägt diese massenmediale Präsentation des Themas auch die Wahrnehmung vieler Männer selbst. „Wenn wir über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sprechen, haben die meisten das Bild vom Chef im Kopf, der gegenüber seiner Sekretärin übergriffig wird“, erläutert dies die Sozialpsychologin Franciska Krings, die die oben erwähnte Studie der Universität Lausanne leitete. „Männer werden kaum als Opfer wahrgenommen. Dementsprechend kommen die wenigsten auf die Idee, sich selbst so zu sehen.“ [12]

Das ändert sich jedoch allmählich. Während im Herbst 2016 unter dem Twitter-Hashtag #MeToo hauptsächlich Frauen ihre Erlebnisse teilten, äußerten sich sexuell belästigte Männer unter #MenToo. Über diesen Hashtag berichteten die meisten Medien allerdings nicht. Eine Ausnahme machte die Schweizer Zeitung 20 Minuten und fragte ihre Leser: „Wurden Sie als Mann sexuell belästigt?“ Der Ansturm an Männern, die ihre Erlebnisse schilderten, war so groß, dass der Kommentarbereich zügig geschlossen werden musste. [13] Am folgenden Tag ließ die Redaktion in einem eigenen Artikel allein männliche Belästigungsopfer zu Wort kommen [14] – in deutschen Medien unvorstellbar. Die einzige andere ermittelbare Nachrichtenseite aus dem deutschen Sprachraum, die auch über #MenToo berichtete, war Österreichs heute.at – nicht ohne zu erwähnen, dass sich „etliche Frauen“ kritisch dazu äußern, wenn jetzt auch Männer über ihre Opfererfahrung sprechen. [15]

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[1] Vgl. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter Beschäftigten in Deutschland Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchgeführt von SUZ − Sozialwissenschafliches Umfragezentrum GmbH Duisburg. Online unter https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Umfragen/handout_umfrage_sex_belaestigung_am_Arbeitsplatz_beschaeftigte.pdf?__blob=publicationFile&v=4.

[2] Vgl. Drexler, Peggy: Sexist Women Bosses. In: Forbes vom 23.5.2013, online veröffentlicht unter http://www.forbes.com/sites/peggydrexler/2013/05/23/sexist-women-bosses/. Drexler ihrerseits bezieht sich auf Paludi, Michele (Hrsg.): Women and Management. Global Issues and Promising Solutions. Praeger 2013, S. 51.

[3] Die Studie steht online unter http://www.aauw.org/learn/research/upload/DTLFinal.pdf.

[4] Vgl. American Education Research Journal, Sommer 1996, zitiert nach Cook, Philip und Hodo, Tammy: When Women Sexually Abuse Men. Praeger 2013, S. 113.

[5] Vgl. Zaslawski, Valerie: Auch Frauen sind Täter. In: Neue Zürcher Zeitung vom 4.12.2013, online veröffentlicht unter http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/jeder-zweite-wird-belaestigt-1.18197847.

[6] Vgl. Quecke, Franca im Interview mit Sylvia Gaßner: „Lange Haare, Dutt und Hütchen – das wird als Firmenidentität verkauft“. Online seit dem 16.8.2019 unter https://www.spiegel.de/karriere/sexuelle-belaestigung-von-flugbegleitern-warum-das-problem-so-gross-ist-a-1282061.html.

[7] Vgl. Freitag, Lin: Männer häufiger von Übergriffen im Job betroffen als Frauen. In: Wirtschaftswoche vom 3.3.2015, online unter http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/sexuelle-belaestigung-maenner-haeufiger-von-uebergriffen-im-job-betroffen-als-frauen/11450472.html.

[8] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter Beschäftigten in Deutschland. Online unter http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Umfragen/Handout_Umfrage_sex_Belaestigung_am_ArbPlatz_Beschaeftigte.pdf.

[9] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Was tun bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? Leitfaden für Beschäftigte, Arbeitgeber und Betriebsräte. Online unter https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Leitfaden_Was_tun_bei_sexueller_Belaestigung.pdf.

[10] Vgl. Hoffmann, Arne: Vermischtes vom 13. Januar 2016. Online unter http://genderama.blogspot.de/2016/01/vermischtes-vom-13-januar-2016.html.

[11] Vgl. N.N.: Haben Sie Übergriffe im Job erlebt? Online seit dem 12.1.2016 unter http://www.spiegel.de/karriere/sexismus-im-alltag-was-haben-sie-schon-erleben-muessen-a-1071567.html.

[12] Vgl. Bruckner, Johanna: „Männer werden kaum als Opfer wahrgenommen“. In: Süddeutsche Zeitung vom 19.12.2013, online unter http://www.sueddeutsche.de/karriere/sexuelle-belaestigung-am-arbeitsplatz-maenner-werden-kaum-als-opfer-wahrgenommen-1.1846785.

[13] N.N.: Wurden Sie als Mann sexuell belästigt? In: 20 Minuten vom 19.10.2017, online unter http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Wurden-Sie-als-Mann-sexuell-belaestigt—23081543.

[14] N.N.: „Sexuelle Belästigung am Mann wird verharmlost“. In: 20 Minuten vom 20.10.2017, online unter http://www.20min.ch/schweiz/news/story/28864480.

[15] Vgl. N.N.: Nach #MeToo rufen Männer zu #MenToo auf. Online seit dem 18.10.2017 unter http://www.heute.at/timeout/virale_videos/story/Maenner-machen–MeToo-zu–MenToo-54982286.