„Testosteron verleitet Männer zu aggressivem und riskantem Verhalten.“
DIE WAHRHEIT HINTER DEM BELIEBTEN IRRTUM:
Vermutlich weil es als „Männerhormon“ gilt, hatte Testosteron in den letzten Jahren eine eher schlechte Presse. Immer wieder werden Männer wegen dieses Sexualhormons als aggressiv, streitlustig und dauergeil dargestellt. Und kommt es zu einer Wirtschaftskrise oder Skandalen im Finanzsektor, gelten schnell die „testosterongefluteten“ Chefetagen als schuldig, die hormongesteuert waghalsige Risiken eingegangen seien. Die nicht immer nur unterschwellige Botschaft lautet dann: mit weniger Männern wäre das nicht passiert.
Die These indes, dass Testosteron Männer aggressiv und risikofreudig macht, ließ sich in mehreren Studien gerade nicht nachweisen. Nie sei er als Wissenschaftler „mit so vielen Mythen konfrontiert worden“ wie beim Testosteron, berichtet der Demograf Robin Haring, der an der Universität Greifswald forscht, und ärgerte sich so sehr darüber, dass er dem Hormon ein eigenes Buch gewidmet hat: „Die Männerlüge“. Darin analysiert Haring hundert wissenschaftliche Artikel zu diesem Hormon. Ein Fazit: „Sämtliche Studien, die einen direkten Einfluss von Testosteron auf das Verhalten belegen wollen, sind wacklig.“ [1]
Dabei zeichnen auch diese Studien kein so negatives Bild von Testosteron, wie es dem männerfeindlichen Volksglauben entspricht. In einer Untersuchung etwa zeigte sich: Menschen, denen eine hohe Dosis von Testosteron gegeben wurde, spürten eher den Drang, sich mit Freunden zu treffen, wollten Probleme zügiger angehen und waren bei jeder Aktivität etwas forscher als zuvor. [2] Gerade die neuere Forschung weist eher auf einen positiven Effekt von Testosteron hin – so etwa eine Untersuchung, die Ende 2009 im international angesehenen Fachmagazin Nature veröffentlicht wurde. Ihr Ergebnis: Testosteron stärkt die soziale Ader und führt zu einem ausgesprochen fairen Verhalten untereinander. Die an dieser Untersuchung beteiligten Forscher ließen insgesamt 120 Versuchspersonen über die Aufteilung eines realen Geldbetrags diskutieren. Manche von ihnen bekamen vorher Testosteron gespritzt, andere lediglich ein Scheinpräparat. Und siehe da: Probanden, deren Testosteronspiegel man künstlich erhöht hatte, machten durchgehend die faireren Angebote und erreichten so wesentlich häufiger eine Einigung mit ihrem Gesprächspartner.
Bislang wusste man, dass Testosteron dazu beiträgt, Männer dominant zu machen. Der geschilderte Versuch brachte Klarheit darüber, wie dieser Eindruck von Dominanz entsteht: Wir Menschen erobern in der Regel dann einen besonders hohen Status, wenn wir uns gegenüber unseren Mitmenschen sozial geschickt verhalten. Testosteron erleichtert diese Fähigkeit.
Allerdings zeigte die Studie auch, wie tief in uns inzwischen das Vorurteil sitzt, Testosteron mache Männer aggressiv. Diejenigen Versuchsteilnehmer nämlich, die fälschlich überzeugt davon waren, Testosteron und nicht das Scheinpräparat verabreicht bekommen zu haben, versuchten besonders stark, ihre Verhandlungspartner über den Tisch zu ziehen. [3]
„Testosteron hemmt aggressives Verhalten bei Frauen“ berichtete am 12. Januar 2017 schließlich das Ärzteblatt. Der Artikel stellt ebenfalls klar, dass die verbreitete Annahme, Testosteron führe zu aggressiverem Verhalten, nicht haltbar ist. Das zeigten Untersuchungen der Klinik für Neurologie und der Medizinischen Klinik I der Universität zu Lübeck und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Die Forscher führten einen Versuch durch, bei dem man weibliche Versuchspersonen durch wütende Blicke und zunehmend lautere unangenehme Geräusche provozierte. Frauen mit höherem Testosteronspiegel verhielten sich weniger aggressiv. Macià Buades-Rotger, einer der Autoren der Untersuchung erklärte, dieses Ergebnis möge überraschend wirken, aber schon frühere Studien hätten ergeben, dass Testosteron soziales Verhalten und Altruismus begünstige. [4]
Wie sieht es im Gegensatz dazu eigentlich mit dem sogenannten „Frauenhormon“ Östrogen aus? Hier lässt eine aktuelle Untersuchung ebenfalls aufhorchen: Psychologen der Goethe-Universität verglichen die Kooperationsbereitschaft von Frauen in der Zeit während und kurz nach der Menstruation, wenn die Konzentration von Östrogen niedrig ist, mit der Kooperationsbereitschaft kurz vor und einige Tage nach dem Eisprung, also zu einem Zeitpunkt, wo die Östrogen- und Progesteronspiegel besonders hoch sind. Das Ergebnis: Je höher der Spiegel des Östrogens war, desto geringer fiel die Bereitschaft der Frauen aus, ihre Ressourcen mit einer fremden Person zu teilen.
Christine Anderl, Erstautorin der Studie, erläutert hierzu: „Durch eine Vielzahl an Studien ist belegt, dass Menschen, die bei diesem Test eine hohe Bereitschaft zum Teilen zeigen, auch im echten Leben häufiger und mehr Geld für einen guten Zweck spenden, öfter mit der Bahn statt mit dem Auto zur Arbeit fahren und in Verhandlungen kompromissbereiter sind als Menschen mit einer weniger stark ausgeprägten prosozialen Wertorientierung.“ [5]
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[1] Vgl. Hollersen, Wiebke: Den „testosterongesteuerten Mann“ gibt es nicht. In: Die Welt vom 7.10.2015, online veröffentlicht unter https://www.welt.de/gesundheit/article147330051/Den-testosterongesteuerten-Mann-gibt-es-nicht.html.
[2] Vgl. Dabble, James und andere: Exploring the Mind of Testosterone: A Beeper Study. In: Journal of Research in Personality, Volume 31, Issue 4, Dezember 1997, S. 577-587, online unter https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0092656697922030.
[3] Vgl. Eisenegger, Christoph u. a.: Prejudice and truth about the effect of testosterone on human bargaining behaviour. In: Nature vom 21.1. 2010, Online unter http://www.nature.com/nature/journal/v463/n7279/full/nature08711.html. Siehe dazu auch Schäfer, Susanne: Testosteron macht männlich, aber nicht aggressiv. In: Die Zeit vom 23.9.2015, online unter http://www.zeit.de/zeit-wissen/2015/05/testosteron-maenner-hormon-wirkung sowie N.N.: Testosteron macht doch nicht streitlustig unter http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-10928-2009-12-09.html.
[4] Vgl. N.N: Testosteron hemmt aggressives Verhalten bei Frauen. In: Ärzteblatt vom 12.1.2017, online unter http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/72424.
[5] Vgl. N.N.: Hoher Östrogenspiegel macht asozial. Online seit dem 16.9.2015 unter http://derstandard.at/2000022310880/Hoher-Oestrogenspiegel-macht-asozial.