Lexikon der feministischen Irrtümer

Politisch korrekte Vorurteile und männerfeindliche Mythen auf dem Prüfstand der Wissenschaft

von Arne Hoffmann

„Gewalt und Aggression sind typisch männlich.“

DIE WAHRHEIT HINTER DEM BELIEBTEN IRRTUM:

Im Kapitel über vermeintliche Frauenfeindlichkeit haben wir gesehen, dass Männer nicht nur in der radikalfeministischen Hate Speech immer wieder als Gewalttäter gebrandmarkt wurden, während Frauen als friedfertig und weit weniger aggressiv gezeichnet werden. Das ist allerdings reines Wunschdenken. So stellte Sabine Etzold in der Zeit-Ausgabe 46/2001 [1] unter der Überschrift „Auch Frauen sind zu allem fähig“ klar, dass der Aggressionsforschung zufolge die Angriffslust unter beiden Geschlechtern ungefähr gleich verteilt ist: „Die Bielefelder Soziologin Christiane Schmerl hat die Argumentationsstränge dieser Forschung jetzt zusammengefasst und kommt zu folgendem Resultat: Wesentliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern lassen sich nicht feststellen.“ Das häufigste Ziel weiblicher Aggression sei eine andere Frau, das zweithäufigste der eigene Ehemann. Das häufigste Motiv aber seien Männer und ihr Verhalten. [2]

Knappe zwei Jahre später, am 16. Juli 2003, fasste die katholische Universität Ingolstadt-Eichstätt in einer Pressemeldung den aktuellen Forschungsstand über die Gewaltverteilung unter den Geschlechtern zusammen:

„‚Gewalt ist männlich‘ – diese, typischerweise durch Medien vermittelte Aussage, ist falsch. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler, die sich im Rahmen einer Tagung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) mit dem Themenfeld ‚Geschlecht – Gewalt – Gesellschaft‘ auseinandersetzen. So zeigt sich beispielsweise, dass Konflikte und Widersprüche in den Biografien von Gewalttätern einen viel größeren Einfluss auf die Entstehung von Gewalt haben als das Geschlecht eines potenziellen Täters.

(…) Prof. Dr. Ulrike Popp, Klagenfurt, verwies darauf, dass sich die vorherrschende Definition von Gewalt fast ausschließlich auf strafrechtlich relevante Delikte oder physische Gewalt mit Verletzungs- oder Tötungsfolgen beziehe. Jedoch belegten Untersuchungen zu den Ausdrucksformen weiblicher Aggression, dass eine Erweiterung des Gewaltbegriffes um Kategorien wie Mobbing, Stalking, psychische und verbale Gewalt das Verhältnis von männlicher zu weiblicher Täterschaft deutlich zu ‚Ungunsten‘ der Frauen verschieben würde. Dagegen werde in den Medien und in weiten Teilen der Wissenschaft ständig darauf verwiesen, Gewalt sei ein Männermonopol, was zu einer erheblichen Verzerrung der gesellschaftlichen Realität beitrage.“

Insbesondere zum Thema „Gewalt unter jungen Mädchen“, das erst kürzlich in unseren Medien als ernsthaftes Problem wahrgenommen wird, lagen bereits 2001 eindeutige Erkenntnisse vor. So berichtete der Antidiskriminierungsforscher Dr. Peter Döge in seinem Werk „Geschlechterdemokratie als Männlichkeitskritik“:

„In einer Befragung von rund 3.500 SchülerInnen der 6. bis 10. Klasse unterschiedlicher Schulformen gaben 15 Prozent der Mädchen an, sich in den vergangenen zwölf Monaten mit anderen geprügelt zu haben, 8 Prozent der Mädchen hatten gemeinsam mit anderen jemanden verprügelt, 13 Prozent anderen gewaltsam etwas entwendet, 12 Prozent der Mädchen Schuleigentum beschädigt und 5 Prozent der Mädchen sogar Waffen mit in die Schule gebracht. Bundesweit ist seit 1995 die Zahl der Straftaten junger Mädchen (bis 18 Jahre) um 27 Prozent auf rund 120.000 Delikte gestiegen. Bei Jungen im gleichen Alter nahm die Quote im selben Zeitraum nur halb so stark zu. Dabei steigt besonders die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen: Bundesweit schnellte sie seit 1995 bei Mädchen bis zum 14. Lebensjahr um fast 50 Prozent nach oben. (…) Die verquere Einschätzung von Mädchen- und Jungengewalt führt in diesem Fall dazu, dass eine Lehrerin ein Mädchen, welches mehrmals jüngere Schülerinnen auf der Toilette der Schule verprügelt hatte, als ‚Powermädchen‘ bezeichnet.“ [3]

Der Männerforscher Bonde kommt zu dem Schluss, dass Frauen ihre eigene, die weibliche Gewalt als „progressiv“ bzw. „fortschrittlich-gut“ aufwerten, während sie die männliche Gewalt als „reaktionär“ bzw. „altmodisch-schlecht“ verurteilen. [4]

Die US-amerikanische Psychologin Janet Hyde von der Universität Wisconsin nahm sich 46 umfangreiche Meta-Analysen über Ähnlichkeiten und Unterschiede der Geschlechter vor und gelangte dabei zu der Schlussfolgerung, dass psychische Differenzen, falls diese überhaupt festgestellt werden konnten, sehr gering ausfielen. Hyde arbeitete heraus, dass häufig der Kontext von Untersuchungen, also eine Schablone, in die schon viele Vorurteile eingeflossen waren, eine Rolle spielte. So konnte etwa Deborah Prentice von der Universität Princeton nachweisen, dass sich Männer bei Videospielen nur dann aggressiver als Frauen verhielten, wenn sie dem Experimentator zuvor bekannt gemacht worden waren. In anonymisierten Testsituationen hingegen agierten die Frauen aggressiver. [5]

„Die Vorstellung, dass die Gewalt im Leben eines Jungen biologisch vorbestimmt ist, dass das männliche Wesen ‚von Natur aus‘ zur Aggression neigt“, erklärt der Psychologe Terence Real, „hat gegenwärtig wieder einmal Hochkonjunktur, auch wenn Entwicklungsbiologen und Anthropologen immer wieder auf die Unhaltbarkeit dieser Behauptung hinweisen“. [6] So verglichen die Autorinnen Ann Frodi, Jacqueline Macaulay und Pauline Rupert-Thome für das Psychological Bulletin nicht nur 72 Studien über menschliches Aggressionsverhalten, sondern zogen zudem noch 80 Bücher und Fachzeitschriften zum selben Thema zurate. Ihre Schlussfolgerung: Die weitverbreitete Annahme, dass Männer fast immer körperlich und Frauen eher indirekt aggressiv seien, werde durch die Forschungsliteratur nicht gestützt. Statt dessen gibt es experimentelle Hinweise darauf, dass Frauen in ebenso starkem wenn nicht stärkerem Ausmaß offen feindselig und direkt aggressiv wie Männer seien, sowohl durch Worte als auch durch Taten. [7]

Zahlreiche Untersuchungen sind inzwischen zu dem Ergebnis gekommen, dass, wenn nur eines der beiden Geschlechter im Gespräch Aggressionen ausdrückt, es fast sechsmal so häufig das weibliche ist (85 gegenüber 15 Prozent). Beteiligen sich beide Geschlechter an einem Streit, dominieren Frauen etwa zweimal so oft. Frauen sind deutlich eher bereit, einen Konflikt einzugehen und ihn auf die nächste Stufe eskalieren zu lassen. Diese Erkenntnisse kamen mit Hilfe der unterschiedlichsten Methoden zutage, zum Beispiel mit der direkten Befragung von Paaren selbst, aber auch mit der Messung von körperlichen Reaktionen. Hier zeigte sich, dass sich Männer eher von Frauen einschüchtern lassen als umgekehrt und dass eheliche Auseinandersetzungen für sie mit einem größeren Stress verbunden sind. [8]

Dabei hatte und hat die Gewaltforschung hier mit einigen Hindernissen zu kämpfen:

· Der Archetyp vom Mann als Krieger und der Frau als Mutter ist in den Köpfen der Wissenschaftler genauso eingeprägt wie in den Köpfen aller anderen Leute. Das führt oft dazu, dass bei Themen wie Aggression und Gewalt Frauen gar nicht erst untersucht werden. [9]

· Wenn Frauen untersucht wurden, ging man mit diesen empfindsamen Geschöpfen lange Zeit zartfühlender um und verfälschte dadurch die Untersuchungsergebnisse. Männer wurden von anderen Personen provoziert oder ihre Aggression wurde danach bemessen, wie sehr sie im Experiment bereit waren, einem anderen Teilnehmer elektrische Schocks zuzufügen. Frauen wurden Fallbeschreibungen ausgehändigt, woraufhin sie erzählen sollten, wie sie sich in diesen Situationen verhalten würden. Unsere Selbsteinschätzung hat allerdings oft wenig mit unserem tatsächlichen Verhalten zu tun. [10] Sobald beide Geschlechter derselben Versuchsanordnung unterworfen waren (sie wurden geärgert und konnten mit Elektroschocks reagieren oder wurden nach ihrer Billigung von aggressivem Verhalten befragt), zeigten sich entweder keine Geschlechterunterschiede [11], oder es stellten sich zur Überraschung der Forscher die Frauen als sadistischer heraus: In einem berühmten Experiment, das von der Yale-Universität durchgeführt wurde, hatten College-Studenten die Aufgabe, einem Opfer Elektroschocks zu verpassen. Es waren die Studentinnen, die eher dazu neigten, auf Knöpfe mit höherer Voltzahl zu drücken und diese auch dann noch gedrückt zu halten, als ihre angeblichen Opfer – die in Wahrheit Mitarbeiter der Versuchsleitung waren – schon längst gellende Schmerzensschreie ausstießen. Die Ergebnisse dieses Experiments wurden seitdem überall auf der Welt in Folgeversuchen bestätigt. [12]

· In einer klassischen Studie wurde ein Baby von neun Monaten beim Spielen aufgenommen und dieser Film dann 204 männlichen und weiblichen Erwachsenen vorgespielt. Einigen sagte man, es handele sich um ein männliches, anderen, es handele sich um ein weibliches Kind. Wenn das Baby weinte, hielten die Versuchspersonen es für „verängstigt“, wenn sie es für ein Mädchen hielten, aber für „wütend“, wenn sie glaubten, es sei ein Junge. [13]

Dieses Wahrnehmungsraster hat die verschiedensten Folgen. Zum einen für die Kindererziehung: Ein Kind, das man für verängstigt hält, wird höchstwahrscheinlich eher liebkost und in den Arm genommen als ein Kind, das man für wütend hält. Mädchen müssen geschont werden: Bezeichnenderweise streiten sich Eltern häufiger vor ihren Söhnen als vor ihren Töchtern. [14] Väter sind auch strenger gegenüber Söhnen, während beide Elternteile die Beziehung zu ihren Töchtern als herzlicher und körperlich näher beschreiben und ein größeres Vertrauen in ihre Wahrheitsliebe haben. [15] Zum anderen aber prägt dieses Raster auch die Art, wie wir Erwachsene sehen: Wenn eine Frau einen Mann kritisiert, wird sie angefeuert, wenn ein Mann eine Frau kritisiert, wird sie in Schutz genommen. In einem Experiment, in dem man die verteilten Rollen eines Gespräches wechselweise von Männern und Frauen lesen ließ, gaben die Zuhörer grundsätzlich der Position der Frau Recht. [16]

Die komplexe Wirklichkeit entlarvt die Vorstellung vom Täter Mann und Opfer Frau als Propagandamärchen. Trotz aller immer noch bestehender Schwierigkeiten stehen folgende Untersuchungsergebnisse fest:

· Das Gesetz der Ritterlichkeit („Mädchen schlägt man nicht“) besteht noch immer. Gewalt von Frauen gegenüber Männern wird von der Gesellschaft eher akzeptiert als der umgekehrte Fall. Beobachtungen in einer kalifornischen High School über einen Zeitraum von drei Jahren zeigten, dass Mädchen Jungen in einem Verhältnis von zwanzig zu eins schlugen, also in 95 Prozent aller Fälle. [17]

· Einige Studien berichten, dass Frauen eher zu körperlicher Gewalt greifen, wenn sie nicht mit sozialen Sanktionen für dieses Verhalten rechnen müssen, also etwa wenn keine Zeugen zugegen sind oder ihre Verantwortung für den Ausbruch der Gewalt unklar ist. [18]

· In einem gesellschaftlichen Raum, in dem es keine Männer gibt, ist die Aggression von Frauen extrem stark: Untersuchungen über Frauengefängnisse belegen, dass dort die Gewaltrate zwischen zweieinhalb- und fünfmal so hoch ist wie in den Gefängnissen für Männer. Zu den häufigsten Verstößen dort zählen das Schlagen eines Beamten, Kämpfe ohne Waffe, die Zerstörung fremden Eigentums, Bedrohungen und Sexualvergehen. [19]

Generell wird männliche wie weibliche Gewalt nicht von der Biologie oder der Psyche eines Geschlechts beeinflusst, sondern von kulturellen Faktoren. Schülerinnen in Israel werden zu 20 Prozent häufiger körperlich aggressiv als männliche Schüler in den USA. [20] In historischen Perioden, in denen eine Gesellschaft über genügend Wasser und Nahrung verfügt und sich auch nicht von Überfällen bedroht fühlt, sind hingegen auch die Männer durchweg friedlich, wie die Geschichte Tahitis, der kretischen Minoer oder der Semai in Zentralmalaysia belegt. [21]

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[1] Vgl. Etzold, Sabine: Auch Frauen sind zu allem fähig. In: Die Zeit vom 8. November 2001, online unter https://www.zeit.de/2001/46/200146_aggressionen.xml.

[2] Vgl. Etzold, Sabine: Auch Frauen sind zu allem fähig. In: Die Zeit vom 8. November 2001, online unter https://www.zeit.de/2001/46/200146_aggressionen.xml.

[3] Döge, Peter: Geschlechterdemokratie als Männlichkeitskritik, Kleine 2001, S. 58-59. Döge bezieht sich bei diesen Zahlen seinerseits auf Ulrike Popp u.a.: Es gibt auch Täterinnen: Zu einem bisher vernachlässigten Aspekt der schulischen Gewaltdiskussion. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Heft 2 (2001), S. 170-191.

[4] Vgl. Jäckel, Karin: Deutschland frisst seine Kinder. Reinbek 2000, S. 151.

[5] Vgl. http://science.orf.at/science/news/140679. Hydes Studie „The Gender Similiarities Hypothesis“ ist im Fachjournal „American Psychologist“ (Band 60, S. 581-592; 10.1037/0003-066X.60.6.581) erschienen.

[6] Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 121.

[7] Vgl. Cook, Philip: Abused Men: the Hidden Side of Domestic Violence. Westport 1997, S. 32.

[8] Vgl. Farrell, Warren: Women Can’t Hear, What Men Don’t Say. New York 1999, S. 21.

[9] Björkqvist, Kaj und Niemelä, Pirkko: Of Mice and Women: Aspects of Female Aggression. San Diego 1992, S. 5.

[10] Vgl. Beall, Anne und Sternberg, Robert: The Psychology of Gender. New York 1993, S. 143 sowie Björkqvist, Kaj und Niemelä, Pirkko: Of Mice and Women: Aspects of Female Aggression. San Diego 1992.

[11] Vgl. Schmerl, Christiane: Wenn Frauen zu Hyänen werden. In: Psychologie heute compact, Thema: Frauen, 1998, S. 92-97, hier S. 93-94.

[12] Vgl. Denfeld, Rene: Kill the Body, the Head Will Fall. A Closer Look at Women, Violence and Aggression. New York 1997, S. 335 sowie Kirsta, Alix: Deadlier than the Male. Violence and Aggression in Women. London 1994, S. 48.

[13] Vgl. Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 126 sowie Farrell, Warren: Women Can’t Hear, What Men Don’t Say. New York 1999, S. 22.

[14] Vgl. Cose, Ellis: A Man’s World. How Real Is Male Privilege – and How High Is the Price? New York 1995, S. 185.

[15] Vgl. Real, Terence: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. München 1999, S. 127.

[16] Vgl. Baumli, Francis: Men Freeing Men. Exploding the Myth of the Traditional Male. Jersey City 1985, S. 14.

[17] Vgl. Björkqvist, Kaj und Niemelä, Pirkko: Of Mice and Women: Aspects of Female Aggression. San Diego 1992, S. 11.

[18] Vgl. Young, Cathy: Ceasefire! Why Women and Men Must Join Forces to Achieve True Equality. New York 1999, S. 91.

[19] Pearson, Patricia; When She Was Bad: Violcnt Women and the Myth of Innocence. New York 1997, S. 210.

[20] Evatt, Cris: Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus: tausend und ein kleiner Unterschied zwischen den Geschlechtern. Landsberg am Lech 1998, S. 115.

[21] Farrell, Warren: Mythos Männermacht. Frankfurt am Main 1995, S. 96.